Das knackende Geräusch, gefolgt von einem krachenden Rumpeln, war das Schrecklichste, was ich seit langem gehört hatte. In diesem Moment wusste ich, dass etwas furchtbar schief gelaufen war. Sofort machte ich mich daran, mich anzuziehen. Die Nacht war stockdunkel. Ich war gerade dabei, meine Hose anzuziehen, als ich meine Freundin wieder laufen hörte. Wenn sie immer noch läuft, dachte ich, ist es vielleicht nur eine schlimme Prellung. Wunschdenken, wie ich bald herausfinden würde. Nach einer kurzen Weile kam sie wieder hoch, zurück ins Bett. Es sah nicht gut aus. Der Schmerz ließ sie schwer atmen. Ich beeilte mich, Schmerzmittel und eine Tüte mit gefrorenen Mangostücken zu besorgen. Wir hofften, dass das Kühlen des Knöchels die Situation verbessern würde. In dieser Nacht funktionierten leider nur die Schmerztabletten. Offenbar war sie auf dem Weg zur Toilette an der schmalsten Stelle der steilen Treppe ausgerutscht. Die letzten drei Stufen gehen etwas nach links und bilden eine gefährliche Stelle, die auch bei guter Beleuchtung riskant ist. Wir hatten schon darüber gescherzt, wer wohl zuerst hinunterfallen würde. Nun, das war jetzt geklärt.
Der nächste Morgen brachte keine Erleichterung, aber viele Fragen. Der Knöchel war nun ordentlich geschwollen. Einige Fragen mussten nun schnell beantwortet werden. Welches ist der richtige Arzt für diese Situation in Kanada? Wer wird uns aufnehmen? Mir fiel ein, dass es in Kanada wohl so etwas wie eine allgemeine Gesundheitshotline wie in Deutschland geben muss (116117). Diese Hotline hilft jedem, den richtigen Arzt für seine Verletzung zu finden und auch, wo sich der nächstgelegene Arzt:in befindet. Also rufe ich die kanadische Version der Hotline (811) an und auch die Hotline unserer deutschen Auslandsversicherung (ADAC). Die Krankenschwester, die uns von der 811-Hotline zurückrief, erklärte uns, dass wir zu einer Walk in Clinic gehen sollten, die wir mit Google schnell fanden. Enttäuscht war ich hingegen von der Unterstützung durch unsere Auslandsversicherung. Sie wussten nicht, wen wir konsultieren sollten, und konnten uns keinen anderen Arzt nennen als einen, den sie wahrscheinlich über Google gefunden hatten und der 56 Minuten mit dem Auto von uns entfernt war. Warum dieser Arzt keine Option war, muss ich wohl nicht erklären. Also machten wir uns auf den Weg zur Walk-in Clinic. Wie Odysseus zu Beginn seiner Reise, wussten wir nicht, auf welche Odyssee wir uns begaben.
Ein Uber brachte uns zur Walk in Clinic. Wir mussten 50 Dollar bezahlen, ein Formular ausfüllen und waren bereit für das Wartezimmer. Die Stunden vergingen, und ich las entweder Reddit-Beiträge oder die Memoiren von Patrick Stewart. Ich hatte bereits 150 Seiten gelesen und fragte mich, was man auf diesen 436 Seiten noch erzählen könnte, als wir aufgerufen wurden. Zwei sehr junge Ärztinnen begrüßten uns in einem Raum im hinteren Teil. Überall liegen Unterlagen und Ordner. Die Wände sind mit Regalen voller Aktenordner tapeziert. Ich fange an, mich klaustrophobisch zu fühlen. Dann werden die üblichen Fragen gestellt. Wie ist es passiert? Haben Sie ein knackendes Geräusch gehört? Tut das weh? Einer der Ärztinnen untersucht den Fuß und Sarah spürt keine Schmerzen dabei. Wir sind uns alle einig, dass es eine Prellung zu sein scheint und nichts Schlimmeres. Mir scheint, die eine Hälfte der Anwesenden wünscht sich, dass es sich um eine Prellung handelt, und die andere Hälfte ist sich nicht ganz sicher. Es werden zwei Untersuchungen angeordnet: Röntgen und Ultraschall. Das eine für die Knochen und das andere für die Muskeln. Man gibt uns Unterlagen und Quittungen für die Versicherungen. Wir haben die uns ausgehändigten Unterlagen nicht überprüft, da wir genug mit uns selbst beschäftigt sind. Ein Fehler, den wir in Zukunft öfter wiederholen werden. Die Klinik für das Screening ist nicht weit entfernt, also laufen wir dorthin. Im Nachhinein bin ich einfach nur verblüfft, wie dumm das von uns war. Wir dachten immer noch, dass es nur ein blauer Fleck sein könnte. Dann wieder mehr Warten. Oh, und dann war da noch das Dokument. Natürlich war es nicht für Sarah. Warum sollte es auch? Offenbar brauchte auch jemand namens Susanne Draupner eine Behandlung. Sie mussten den richtigen Auftrag per E-Mail schicken, und ich will gar nicht erst anfangen, wie oft ich die Empfangsdame der Klinik bitten musste, die Schreibweise des Nachnamens meiner Freundin auf einigen Dokumenten zu korrigieren, die sie uns gaben. Die Kanadier lieben ihr „H“ in Voigt. OK, zurück zum Warten: Ich erfuhr mehr über Stewards Leben, während Sarah mehr und mehr Schmerzen hatte. Nichts Ernstes, aber trotzdem besorgniserregend. Nachdem das Röntgenbild gemacht worden war, wurde uns gesagt, dass die Ergebnisse in drei Stunden an die Ärzte geschickt werden würden. In der Screening Klinik konnten wir nichts mehr tun, also zurück zum Airbnb.
Allerdings wohnten wir damals unter dem Dach und es gab viele Treppen zu steigen. Es dauerte eine ganze Weile, bis wir oben waren. Wir legten uns erschöpft aufs Bett und waren froh, eine Pause zu haben. Während ich das Abendessen zubereitete, rief meine Freundin drei Stunden später in der Walk in Klinik an und erfuhr, dass keine Unterlagen geschickt worden waren. Man sagte uns, wir sollten erst einmal Schmerzmittel nehmen, bis die Ergebnisse vorlägen. Wir hatten nicht erwartet, dass wir den Tag ohne eine Behandlung beenden würden. Ich will jetzt wirklich nicht so anfangen mit: „In Deutschland...blabla“, aber im Ernst. Wir hätten einen Orthopäden aufgesucht und wären mindestens mit Krücken rausgegangen. Die gefrorenen Mangostücke mussten an diesem Abend Überstunden machen.
Zurück in der Screening-Klinik am nächsten Morgen erfuhren wir, dass die Ergebnisse die Klinik noch nicht einmal verlassen hatten. Obwohl sie uns die Ergebnisse jetzt mitteilen konnten: Der Knöchel war gebrochen. Die Ultraschalluntersuchung bestätigte auch das Röntgenbild. So ein Mist. Das ist schlimm, wirklich schlimm, vielleicht braucht es eine teure Operation, schlimm. Unsere Auslandskrankenversicherung zahlt nichts im Voraus. Was nun, fragten wir uns? Die Krankenschwestern in der Screening-Klinik sagten uns, wir sollten direkt in eine Frakturklinik gehen. Ein paar Minuten später erfuhr ich am Telefon, dass eine solche Klinik keine Anlaufstelle ist und man einen Termin braucht, der erst nächste Woche sein könnte. Ich wurde frustriert und fragte die Person am Telefon, was wir mit einem gebrochenen Knöchel solange tun sollten. Ich erhielt eine stumme Antwort, und ich überlegte es mir noch einmal. Die Person am anderen Ende der Leitung konnte nichts anderes tun, als mir die Nachricht mitzuteilen. Ich entschuldigte mich, teilte meinen Dank mit und legte auf. Zeit für einen Kriegsrat. Ich setzte mich mit meiner Freundin zusammen, und wir besprachen unsere Optionen: Zurück zur Walk-in-Klinik und hoffen, einen möglichst frühen Termin zu bekommen, oder direkt in die Notaufnahme gehen. In Anbetracht des drohenden Damoklesschwertes, das über unseren Köpfen schwebte, da wir bei einem Besuch in der Notaufnahme mit hohen Rechnungen zu rechnen hatten, gingen wir zurück in die ambulante Klinik. Sie wissen schon, was uns erwartete. Die Wartezeit war dieses Mal nicht kürzer. Wir wurden in dem Moment aufgerufen, als ich einen wichtigen Anruf entgegennehmen musste. Während ich eine gute Nachricht hörte, erfuhr meine Freundin eine schlechte. Als ich mein Telefonat beendet hatte, war sie bereits auf dem Weg nach draußen. „Wir müssen sofort in die Notaufnahme“, sagte sie mir. Sie hatte mit einem anderen Arzt gesprochen, und der hatte ihr klargemacht, wenn wir eine dringende Behandlung brauchten, war die Notaufnahme unsere einzige Option. Er gab uns auch den Tipp, vor dem Personal merklich zu hinken. Danke für den Tipp dachte ich mir. das wird kein Problem sein.
Wir kamen kurz darauf in der Notaufnahme an. Diese war genau so, wie man es erwarten würde - voll mit Leuten, wo einer schlimmer dran war als ihr Sitznachbar. Wir wurden aufgenommen und behandelt, ohne einen Cent zu bezahlen. Die Rechnung wird zwei Wochen später verschickt. Ich freue mich schon auf diese E-Mail, NICHT. Das Personal war übrigens immer super hilfsbereit und freundlich. Dafür sind wir sehr dankbar. Meine Freundin bekam ein weiteres Röntgenbild, da die CD-ROM, die wir ihnen übergeben hatten, von einem Computer gefressen worden war. Die Scans konnten nicht gelesen werden. „Es ist ein Softwareproblem, tut mir leid“. Wie auch immer, also noch mehr Warten, und dann bekam sie endlich einen Gips und Krücken. Es dauerte nur 48 Stunden seit dem sie fiel. Habe ich schon gesagt, dass meine Freundin in dieser Zeit nie aufgehört hat zu arbeiten? Ich möchte nur zwischendurch erwähnen, dass man in Kanada nicht krankgeschrieben wird solange man noch zwei gesunde Hände und ein funktionierendes Gehirn hat. Wer braucht schon Ruhe, damit der Körper heilen kann, nicht wahr? Der Arzt war so nett, uns für den ersten Tag eine Krankmeldung auszustellen, die es ihr erlaubt, während der Arbeitszeit unbezahlt krank zu sein.
Aber halt, das war noch nicht alles. Wenn Sie glauben, dass wir jetzt fröhlich in den Sonnenuntergang humpeln, irren Sie sich. In der Notaufnahme wurde uns gesagt, dass eine Frakturklinik uns für einen Termin anrufen würde. Das bedeutete, dass sich meine Freundin am nächsten Tag ganz auf ihre Arbeit konzentrieren konnte. Der Anruf kam am gleichen Tag, was uns positiv überraschte, und kurz darauf fanden wir uns in einem anderen Wartezimmer im Kensington Western Hospital wieder. Das Personal dort war erstaunlich fürsorglich und sehr freundlich. Sie versuchten, um eine Operation zu vermeiden, die gebrochenen Knochen mit einem Druckverband zu behandeln. Das Röntgenbild, das nach dem Anlegen des Gipses gemacht wurde, zeigte, dass dieser Versuch fehlgeschlagen war und eine Operation notwendig ist. Für uns bedeutete das, dass wir ohne die allgemeine Gesundheitsversorgung in Ontario möglicherweise Krankenhausrechnungen in Höhe von mehreren zehntausend Euro bezahlen mussten. Der Chirurg schlug zu Recht vor, dass wir einfach nach Deutschland zurückgehen könnten, um es dort machen zu lassen. Das würde allerdings das Ende unseres kanadischen Abenteuers bedeuten, bevor es überhaupt richtig begonnen hatte. Einen Moment lang sah die Welt düster aus.
Da saßen wir nun im Krankenhaus und das Damoklesschwert schien gefallen zu sein - oder war es das? Den nun kommt der Wendepunkt, der entscheidende Moment, in dem ein entschlossener Einsatz und ein Glücksfall zusammen den heldenhaften Durchbruch bringt, der das Blatt zu unseren Gunsten wendet. Die Ärzte hatten uns mitgeteilt, dass die Operation von der Krankenkasse bezahlt werden würde, wenn wir eine Gesundheitskarte beantragen. Nun, was soll ich sagen? Nach einer Fahrt zum nächsten Ontario Service Center sind wir nun beide stolze Besitzer einer vorläufigen Gesundheitskarte. Ich bezweifle allerdings, dass wir angesichts des anhaltenden Poststreiks jemals unsere richtige Karte in den Händen halten werden.
Wir warten nun auf die Bestätigung des Krankenhauses und einen Termin für die Operation.
Update
Gegen 6.30Uhr waren wir im Krankenhaus und dann ging es auch schon los. Wir sind nun im "Women's College" Krankenhaus und der Chirug meint er hat Symptome von Thrombose am Knöchel gefunden. Es hat sich zum Glück sofort ein Termin für eine Ultraschalluntersuchung finden lassen, sodass meine Freundin nicht noch einen weiteren Tag auf ihre OP warten muss. Wahrscheinlich werden wir mit allem in 6 Stunden durch sein. Ich arbeite derweil vom Warteraum aus.
Update nachdem Update
Die Hoffnung auf einen schnellen Fortschritt hat sich schnell zerschlagen. Statt der geplanten OP erwartete uns eine Serie von Untersuchungen, um die Situation genauer einzuschätzen. Dabei fanden die Ärzte zwei Blutgerinnsel im gebrochenen Knöchel. Daraufhin wurden wir in ein anderes Krankenhaus zu einem Spezialisten geschickt – allerdings nicht ohne Umweg durch das Schnellbewertungszentrum. Das Wort "schnell" war hier wohl eher als Satire gedacht: Fünf Stunden Wartezeit, gefolgt von einer Stunde, in der der Arzt die Unterlagen studierte. Am Ende sagte man uns, wir sollten mit der aktuellen Medikation weitermachen – und das war’s. Nach zwölf Stunden in diversen Krankenhäusern kehrten wir ohne greifbares Ergebnis nach Hause zurück. Der ursprüngliche Chirurg hatte eigentlich erwartet, dass es im zweiten Krankenhaus eine therapeutische Behandlung geben würde – Pustekuchen. Am Abend rettete nur eine ordentliche Pizza die Stimmung. Am nächsten Morgen ging es zurück ins gleiche Krankenhaus, diesmal zu einem anderen Spezialisten. Nach einer etwas komplizierten Blutabnahme konnte er uns schnell weiterhelfen. Es stehen weitere Untersuchungen an, aber eine OP scheint inzwischen unwahrscheinlich.
Update nachdem Update nachdem Update
Die Nächte im neuen Apartment waren eine Katastrophe. Schlaf? Fehlanzeige. Und als wäre das nicht genug, entdecke ich heute Morgen eine aufgeblähte Powerbank in meiner Tasche. Bevor mich dieses Ding noch um meine Hand bringt, habe ich es in die Dusche verfrachtet. Schuld daran war wohl die integrierte Taschenlampe, die offenbar mehr Hitze über Nacht produziert, als gesund ist. Gestern hatten wir einen weiteren Termin beim Chirurgen, um die Ergebnisse des Hämatologen zu besprechen. Fazit: Eine OP wäre zu riskant, und der Nutzen würde das Risiko nicht aufwiegen. Zur Sicherheit wird die Tage noch ein CT-Scan der Brust gemacht, um auszuschließen, dass sich dort weitere Blutgerinnsel gebildet haben. Danach könnten wir endlich eine Pause von den Krankenhausbesuchen einlegen über die Feiertage einlegen. Meine Freundin nimmt jetzt stärkere Blutverdünner, die die Gerinnsel in den nächsten vier bis sechs Monaten abbauen sollen. So langsam habe ich das Gefühl, dass wir das Schlimmste überstanden haben.
Ein letztes Update
Wie sich bei einem Scan des Brustkorbes herausstellte waren die Medikamente zu spät erhöht wurden. Wir wurden nachdem Scan sofort in die Notaufnahme gebracht um dort auf eine Einschätzung eines Arztes zu warten. Für meine Freundin war dieser Abend besonders emotional belastend. Sie fühlte sich durch die Ärzte nicht ausreichend beraten. Ich kann sie vollkommen verstehen, man tut alles was einem gesagt wird und die Situation wird immer schlimmer. Nach mehreren schmerzhaften Versuchen ihr Blut abzunehmen und sehr viel Wartezeit bekamen wir wieder eine ähnliche Aussage: "Alle nicht so schlimm, geht nach Hause". Beim letzten Mal in der Notaufnahme bekamen wir keine besseren Medikamente und nun vertrauten wir den Aussagen nicht mehr. Zuhause kam dann der Bericht über die digitale Patientenakte an. Urteil: Blutgerinnsel in beiden Lungenflügeln. Das klang nicht nach einer Lappalie. Ihr Spezialist konnte ihr jedoch am darauf folgendem Tag versichern, dass alle Gerinnsel zu klein waren um einen schweren Schaden anzurichten. Übermorgen wird der Gips abkommen und wenn möglich versuchen wir einen weiteren Bluttest zu bekommen um sicher zu gehen das die Medikamente auch wirken.
"Everything will be okay in the end. If it’s not okay, it’s not the end." John Lennon